Makro Research mit Dr. Ulrich Kater. | Es gibt wieder positive (Real-)Zinsen
Über den Sommer hinweg sind die Renditen von deutschen und von US-Staatsanleihen Schritt für Schritt nach oben geklettert. Dies geschah, obwohl die Geldpolitik schon seit einiger Zeit bremsend wirkt und die Inflationsraten infolgedessen wie gewünscht deutlich zurückgegangen sind. Die Kommunikation der großen Notenbanken ist nach wir vor falkenhaft stabilitätsorientiert, die Option weiterer Leitzinserhöhungen ist noch nicht vom Tisch. Insofern sollten die bekannten Inflationsziele perspektivisch erreicht werden. Eine höhere Inflationsprämie dürfte also nicht der Grund für die höheren Anleiherenditen gewesen sein. Offenbar haben die Märkte nicht nur mit der Nullzinswelt endgültig abgeschlossen, sondern gehen vielmehr gedanklich noch etwas weiter. Sie haben wohl jetzt eine neue Ära von leicht positiven Realzinsen vor Augen. Es gibt wieder eine echte Laufzeitenprämie, was lange Zeit nicht der Fall war.
Numerisch betrachtet liegen die langfristig normalen Renditen nur leicht höher als bisher von uns prognostiziert. Doch muss dieses etwas veränderte Bild der Zinslandschaft verarbeitet werden. Von der US-Notenbank Fed war unlängst zu vernehmen, dass die Konjunktur mit leicht höheren Zinsen leben könne. Die Resilienz der europäischen Konjunktur mag man dagegen etwas geringer einschätzen. Doch hilft hier mit Blick auf das kommende Jahr die Verbesserung der Realeinkommen dank deutlich geringerer Inflationsraten und spürbarer Lohnsteigerungen. Der private Konsum dürfte das Wachstum also stützen, für einen mitreißenden Aufschwung reicht es allerdings nicht.
Das Tempo des Aufschwungs wird neben der restriktiven Geldpolitik auch von strukturellen Anpassungen an den demografischen Wandel, an den Klimawandel und von geopolitischen Risiken gebremst. Die jüngste Eskalation der Gewalt im Nahen Osten ist eine zusätzliche Quelle der Unsicherheit, wenngleich wir derzeit nicht von einer Ausweitung der Kämpfe auf den Persischen Golf und von einem Einschreiten der USA ausgehen. Einer konstruktiven Perspektive für die internationale politische Zusammenarbeit mit wegweisenden Entscheidungen für die großen Transformationsthemen steht der Konflikt aber mit Sicherheit im Weg. Die Rahmenbedingungen für die Unternehmen und ihre Investitionsvorhaben sind also nicht einfacher geworden.
Immerhin bleibt im Basisszenario das solide globale Wachstum unterstützend für die Kapitalmärkte. Die Unternehmen werden Umsätze und Gewinne in den kommenden Quartalen steigern können, sodass die Aktienmärkte nach den jüngsten Korrekturen bei unauffälligen Bewertungen erneut zulegen werden. Und für die Rentenmärkte bleibt die Aussicht auf Zinssenkungen der großen Notenbanken im kommenden Jahr erhalten, sodass die Renditen tendenziell wieder fallen und damit die Kurse steigen. Dies manifestiert die aktuelle Attraktivität von Rentenanlagen.
Konjunktur Industrieländer
Deutschland
Mit den aktuellen Konjunkturindikatoren verdichtet sich das Bild einer deutlichen Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts im dritten Quartal 2023. Anhand der aktuell verfügbaren Informationen könnte der Rückgang bis zu 0,8 % im Vorquartalsvergleich betragen haben. Wir gehen derzeit von einer Schrumpfung um 0,5 % aus. Doch es gibt auch etwas Hoffnung: Das Abwärtstempo der harten Konjunkturindikatoren hat sich verringert, und die Umfrageindikatoren der Unternehmen zeigen eine erste Stabilisierung. Insbesondere in den Erwartungskomponenten geht es wieder leicht nach oben. Für das Gesamtjahr 2023 hilft das nichts mehr, weshalb nun auch die Wirtschaftsforschungsinstitute und die Bundesregierung eine Schrumpfung im Jahresdurchschnitt erwarten.
Prognoserevision: Abwärtsrevision der Inflationsprognose.
Euroland
Für das dritte Quartal deutet sich eine Wirtschaftsentwicklung in Euroland um die Nulllinie an. Nachdem im ersten Halbjahr die Stimmung nur in der Industrie und bei den Konsumenten schlecht gewesen war, weitete sich zuletzt die Eintrübung auf weitere Wirtschaftsbereiche aus. Zu den wichtigen Belastungsfaktoren gehört die hohe Inflationsrate. Sie ist im September auf 4,3 % nach 5,2 % im Vormonat gefallen, bleibt damit aber immer noch viel zu hoch. Der Rückgang im September ist aber vor allem auf geringere Energiepreise zurückzuführen. Im Bereich Lebensmittel, Alkohol und Tabak lag die Preissteigerungsrate bei 8,8 %. Unter den vier großen EWU-Ländern bewegte sich die Inflationsrate im September zwischen 3,2 % in Spanien und 5,7 % in Italien. Dazwischen lagen Frankreich (5,6 %) und Deutschland (4,3 %).
Prognoserevision: Abwärtsrevision der BIP-Prognose für 2023 und 2024; Abwärtsrevision der Inflationsprognose für 2023.
USA
Das Bruttoinlandsprodukt ist nach inoffiziellen Berechnungen im August um 0,4 % gegenüber dem Vormonat und damit zum vierten Mal in Folge überaus kräftig angestiegen. Wenngleich hierfür nicht die zyklisch bedeutsamen Bereiche verantwortlich waren, ist die konjunkturelle Entwicklung weiterhin überraschend stark. Zudem hat die jährliche Benchmark-Revision zu einer deutlichen Aufwärtsrevision der Überschussersparnis der privaten Haushalte geführt. Diese Ersparnis entstand durch beträchtliche staatliche Unterstützungsmaßnahmen der Regierung zu Beginn der Corona-Krise. Die Ausgabenfreude der privaten Haushalte dürfte damit eine solidere Basis haben als bisher gedacht. Aufgrund des höheren Wachstumsausblicks haben wir auch die Inflationsprognose nach oben angepasst.
Prognoserevision: Aufwärtsrevisionen der BIP-Prognose sowie der Inflationsprognose für 2023 und 2024.
Märkte Industrieländer
Europäische Zentralbank / Geldmarkt
Bei ihrer Ratssitzung am 14. September hat die EZB die Leitzinsen nochmals um 25 Bp angehoben, dabei aber auch signalisiert, dass der Zenit wahrscheinlich erreicht sei. Das Leitmotiv ihrer Entscheidungen ist weiterhin der Wunsch der Notenbanker, die Inflation spätestens bis zum Jahr 2025 auf 2 % zu begrenzen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Unsicherheit über den mittelfristigen Inflationsausblick zu einer Pattsituation im EZB-Rat führen, die einerseits weitere Leitzinserhöhungen wenig wahrscheinlich macht, andererseits aber vorerst auch keine Senkungen zulässt. Deren Beginn erwarten wir erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres. Der Rückgang der Überschussreserven ruft weiterhin keine erkennbaren Spannungen im Bankensystem hervor, sodass die laufenden Refinanzierungsgeschäfte der EZB kaum in Anspruch genommen werden. Entsprechend sollten sich die €STR- und EURIBOR-Sätze vorerst weiterhin am Einlagensatz orientieren. In den kommenden Monaten dürfte sich die EZB verstärkt mit der operativen Ausgestaltung ihrer Geldmarktsteuerung befassen.
Rentenmarkt Euroland
Der Anstieg der Renditen langlaufender Bundesanleihen in den vergangenen Wochen ging unseres Erachtens nicht von der Geldpolitik der EZB aus. Ihr Zinsschritt im September hatte keine nennenswerten Auswirkungen auf die mittelfristigen Leitzinserwartungen. Zudem stehen den höheren Renditen am langen Ende rückläufige langfristige Inflationserwartungen gegenüber. Der hohe Emissionsbedarf der Staaten und der Bilanzabbau der EZB wirken zwar belastend, dürften für den jüngsten Anstieg der Laufzeitprämien aber nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Stattdessen sehen wir die wichtigste Triebfeder in der überraschenden Widerstandsfähigkeit der US-Wirtschaft gegenüber dem hohen Zinsniveau. Wir halten diese Entwicklung jedoch für wenig aussagekräftig für den Euroraum und rechnen daher hier mit nach unten gerichteten Renditen.
Prognoserevision: Höhere Renditeverläufe in den langen Laufzeitbereichen.
Devisenmarkt: EUR-USD
Der Zinsvorsprung der US-Treasuries gegenüber den Bundesanleihen bleibt groß und begründet die anhaltende US-Dollar-Stärke. Anfang Oktober ist der EUR-USD-Wechselkurs auf 1,05 USD je EUR gesunken und markierte damit eine neues Jahrestief. In den kommenden Monaten bleiben die Belastungen für den Euro noch bestehen. Für Deutschland deutet sich eine spürbare Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts im dritten Quartal an, was Stagnation für Euroland bedeuten dürfte. Dagegen zeugen die Makro-Daten aus den USA, wie der jüngste US-Arbeitsmarktbericht, weiterhin von einer robusten Konjunktur. Somit erwarten wir nun etwas spätere und moderatere Leitzinssenkungen der US-Notenbank Fed. Ab dem Frühjahr 2024 sollte der Euro wieder erstarken, wenn Euroland seine konjunkturelle Schwächephase überwunden hat.
Prognoserevision: Abwärtsrevision des EUR-USD-Prognoseverlaufs.
Aktienmarkt Deutschland
Positive Konjunkturimpulse sind zwar noch nicht in Sicht, dafür stabilisiert sich das Wachstum auf niedrigem Niveau. Die Einkaufsmanagerindizes deuten darauf hin, dass die Unternehmen Auftragsbestände abarbeiten und Lagerbestände abbauen. Das kann die schwachen Auftragseingänge derzeit kompensieren und spricht dafür, dass die Unternehmen weiterhin gut durch das schwierige Wachstumsumfeld kommen. Dementsprechend erwarten wir, dass die Ende Oktober / Anfang November vorgelegten Geschäftszahlen für das dritte Quartal solide ausfallen. Dies wird den Markt fundamental beruhigen und die Korrekturbewegung der letzten Wochen wirksam begrenzen. Deren Auslöser waren ohnehin weniger Wachstumssorgen, sondern vielmehr die stark angestiegenen Zinsen, die sich in den kommenden Monaten aber wieder deutlich beruhigen sollten. Die Bewertungsniveaus haben sich zuletzt nochmals weiter nach unten bewegt und sollten für den regelmäßigen Einstieg genutzt werden.
Unternehmensanleihemarkt Euroland
Mit dem kräftigen Zinsanstieg der letzten Wochen und der Verunsicherung der Märkte durch das Kriegsgeschehen im Nahen Osten sind die Spreads an den Kreditmärkten leicht angestiegen. Hierunter haben zunehmend auch Kassa-Anleihen gelitten, die sich bis zum Sommer teilweise den Spread-Ausweitungen bei Kreditderivaten hatten entziehen können. Denn zuletzt sind auch einige Corporate-Neuemissionen mit recht attraktiven Neuemissionsprämien ausgestattet worden, um die Platzierung zu garantieren. Durch Tauschoperationen am Sekundärmarkt haben sich alte ausstehende Anleihen im Spread ausgeweitet. Zwar sind die Risikoaufschläge von Unternehmensanleihen im Vergleich zu früheren Jahren immer noch nicht sonderlich hoch, doch das absolute Renditeniveau lässt sie durchaus attraktiv erscheinen.
Emerging Markets
Märkte
Der deutliche Renditeanstieg am US-Rentenmarkt hat Schwellenländeranleihen unter Druck gebracht. Die Spreads von Hartwährungsanleihen haben sich leicht ausgeweitet. Die Renditen von EM-Lokalwährungsanleihen sind weniger stark gestiegen als von US-Staatsanleihen, doch der Rückgang in der Renditedifferenz hat EM-Währungen belastet. Die gestiegene Währungsvolatilität dürfte dazu führen, dass die Zentralbanken hinsichtlich des Beginns und / oder des Tempos von Zinssenkungen vorsichtig agieren. Da wir rückläufige US-Renditen erwarten, stufen wir Schwellenländeranleihen weiterhin als attraktiv ein. Aktien der Emerging Markets entwickelten sich zuletzt im Umfeld der deutlich höheren US-Renditen ähnlich schwach wie die weltweiten Märkte. Während die Aktienmärkte Lateinamerikas – auch aufgrund negativer Währungseinflüsse – besonders klar verloren, konnten chinesische Aktien outperformen. Die nächsten Wochen dürfte die Entwicklung der US-Renditen und des US-Dollar weiter entscheidende Faktoren für die Performance der EM sein. Die Gewalteskalation im Nahen Osten hatte bislang nur begrenzte Marktauswirkungen.
Szenarien
Basisszenario (Wahrscheinlichkeit: 70 %)
Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung halten perspektivisch den Inflationsdruck hoch und dämpfen das globale Wachstum.
Regimewechsel am Kapitalmarkt durch dauerhaft höhere Zinsen.
Notenbanken haben ihren Leitzinsanhebungszyklus weitgehend abgeschlossen und agieren mit aufmerksamem Blick auf die Datenlage. Erste Leitzinssenkungen sind frühestens 2024 zu erwarten.
Weltwirtschaft durchläuft eine Schwächephase und wächst ab 2024 wieder kräftiger.
Wegen weiterhin zu hoher Inflation und wegen deutlich gestiegener Zinsen werden Geld- und Finanzpolitik bis auf Weiteres die Entwicklung von Wirtschaft und Kapitalmärkten nicht mehr so stützen können wie bisher.
Für Europa und die USA sind bis ins Jahr 2024 hinein schwaches Wachstum und zu hohe Inflationsraten zu erwarten.
In China begrenzen die zunehmende staatliche Regulierung und die Korrektur im Immobiliensektor das Wachstum.
Aktienmärkte bewegen sich moderat aufwärts mit hohen Schwankungen. Sie profitieren vom globalen Wachstum und vom Umbau der Wirtschaft mit Blick auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit.
Zinsen dürften tendenziell Inflationsraten nur knapp übertreffen. Kaufkrafterhalt der Geldanlagen funktioniert am besten über breit gestreute Wertpapieranlagen, allerdings unter Inkaufnahme von Wertschwankungen.
Negativszenario (Wahrscheinlichkeit: 20 %)
Zweitrundeneffekte bei der Inflation setzen Lohn-Preis-Spirale in Gang und führen für lange Zeit zu deutlich höheren Inflationsraten. Notenbanken sehen sich dadurch zu einer extrem restriktiven Geldpolitik gezwungen, die eine massive Rezession auslöst.
Belastungen durch spürbar gestiegene Zinsen lösen eine globale Bankenkrise aus.
Dramatische Eskalation des Russland-Ukraine-Kriegs oder des militärischen Konflikts im Nahen Osten mit Ausweitung auf weitere Länder. Infrastruktur-Sabotage als Mittel der unkonventionellen Kriegsführung. Anhaltende Ost-West-Konfrontation verringert positive Wachstumswirkungen der Globalisierung.
Stark gestiegene Staatsverschuldung löst in Verbindung mit den spürbar gestiegenen Zinsen regionale bzw. globale Schuldenkrisen aus mit dem Risiko einer umfassenden Finanzkrise bzw. in Euroland einem erneuten Infragestellen der Währungsunion.
Positivszenario (Wahrscheinlichkeit: 10 %)
Inflationsraten gehen innerhalb kürzester Zeit zurück und bleiben dann im Bereich der Notenbankziele. Notenbanken können Zinsen schnell auf neutrale Niveaus zurücknehmen.
Einfrieren der geopolitischen Konflikte führt zu zügiger Beruhigung von Wirtschaft und Finanzmärkten.
Kräftige Gewinnanstiege der Unternehmen lassen Aktienkurse deutlich steigen und wirken als Triebfeder für die Investitionsdynamik.
Überraschend starke Wachstumsdynamik in den Emerging Markets mit Schubwirkung für globale Wirtschaft.