Makro Research mit Dr. Ulrich Kater | Resiliente Weltwirtschaft
In diesem Jahr haben die Unternehmen, die privaten Haushalte, die Banken, ja, die gesamten Volkswirtschaften einen historischen Zinsanstieg zu verkraften. Die im vergangenen Jahr in schwindelnde Höhen gestiegenen Inflationsraten mussten durch die Notenbanken mit höheren Leitzinsen bekämpft werden. Erste Erfolge sind sichtbar, vor allem die Energiepreise sind – unter anderem wegen der Erwartung einer gedämpften globalen Wirtschaftsaktivität – zurückgekommen. Und doch sind die inflationären Aufwärtsdynamiken noch nicht derart gebrochen, dass die Notenbanken zufrieden wären und rasch von ihrem bremsenden Kurs abrücken könnten.
Zinserhöhungsphasen hat es historisch schon oft gegeben. In der Regel führten diese nach relativ kurzer Zeit in eine mehr oder minder tiefe Rezession. Die damit einhergehende Konsumnachfrageverringerung war aus geldpolitischer Sicht gewünscht und trug maßgeblich zur Preisdämpfung bei. Bislang indes ist in der Weltwirtschaft eine bemerkenswerte Resilienz gegenüber der geldpolitischen Straffung zu beobachten. Deutschland ist eines der wenigen Länder, die in eine Rezession gerutscht sind. Und auch diese Rezession ist nicht wirklich stark ausgeprägt, denn sie läuft bisher ohne eine große Insolvenzwelle bei den Unternehmen und ohne erkennbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit ab. Infolgedessen schlagen sich auch die Gewinnentwicklung der Unternehmen, die Kreditvergabe und der Immobilienmarkt wacker, was den Stress im Finanzsektor in erträglichem Rahmen hält.
Ein guter Anteil der Resilienz ist der schon länger stützenden Finanzpolitik und der zuletzt in den Vordergrund gerückten Lohnpolitik geschuldet. Die privaten Haushalte wollen einen Ausgleich der Reallohnverluste durch Tariflohnsteigerungen. Und diese sind gerade mit Blick auf den Arbeitskräftemangel auch zum Gutteil durchsetzbar. Dies macht es allerdings wiederum der Europäischen Zentralbank schwerer. Der weitere Weg der Inflationsratenreduzierung wird mühsam. Daher tritt die EZB derzeit kommunikativ sehr entschieden auf. Die nächste Zinserhöhung Ende Juli ist quasi gesetzt.
Wie es dann geldpolitisch weitergeht, ist „datenabhängig“, die Unsicherheit bleibt also hoch. Bliebe die Konjunktur kraftlos oder würde sich gar noch weiter abschwächen, wäre wohl spätestens im September Schluss mit den Leitzinsanhebungen. Das Risiko für die Finanzmärkte liegt in der Inflationsdynamik. Käme diese stärker als gedacht, müssten die Notenbanken noch einmal die Zinskeule herausholen. Wir gehen davon aus, dass dieses Risikoszenario nicht eintreten wird. Somit erwarten wir höhere Niveaus an den Aktienmärkten zum Jahresende. Da die Renditen an den Rentenmärkten wohl ihre Höchststände schon hinter sich gelassen haben und die Weltkonjunktur einigermaßen unbeschadet über den nächsten Winter kommen dürfte, weisen auch Unternehmensanleihen und Emerging Markets-Anleihen relativ konstruktive Perspektiven auf.
Konjunktur Industrieländer
Deutschland
Die deutsche Volkswirtschaft kämpft im zweiten Quartal mit einer Stagnation. Die harten Indikatoren im April waren erfreulich, die ersten Mai-Indikatoren gemischt. Ein deutlich negatives Momentum kommt von den Stimmungsindikatoren. So ist der deutsche Industrieeinkaufsmanagerindex im Juni auf seinen zehntniedrigsten Wert gefallen, und die ifo Geschäftserwartungen sind abgestürzt. Immer stärker kommen die Bremseffekte der weltweiten Straffung der Geldpolitik zum Tragen. Die Unternehmen klagen zunehmend über einen Mangel an Nachfrage und leben derzeit vor allem vom Abarbeiten ihrer Auftragsbestände.
Euroland
Die wirtschaftliche Entwicklung in Euroland ist schwach. Dabei bestehen erkennbare nationale Unterschiede. Während Deutschland im ersten Quartal in die Rezession gerutscht ist, sind die Volkswirtschaften in Spanien und Italien noch gewachsen. Für das zweite Quartal signalisieren die Frühindikatoren eine Stagnation im Euroraum. Immerhin wird die Preisentwicklung moderater. Die Euroland-Inflationsrate ist im Juni, nach 6,1 % im Vormonat, auf 5,5 % zurückgegangen. Auch hier gibt es eine deutliche Heterogenität zwischen den EWU-Ländern. In Spanien, Belgien und Luxemburg lagen die Preissteigerungsraten bei unter 2 %, hingegen in den baltischen Staaten, Kroatien und der Slowakei bei über 8 %. Bei der enger gefassten Kernrate der Inflation gab es dagegen keine Entspannung. Sie ist im Juni auf 5,4 % leicht angestiegen.
Prognoserevision: Aufwärtsrevision der Inflationsprognose für 2024.
USA
Das Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Quartal in der finalen Schätzung ungewöhnlich deutlich nach oben revidiert worden. Zudem nahm das monatliche Bruttoinlandsprodukt im Mai nach inoffiziellen Berechnungen um 0,6 % gegenüber dem Vormonat überaus stark zu. Zwar wurde der zuvor gemeldete kräftige Anstieg im April fast vollständig wegrevidiert, aber insgesamt deutet sich an, dass die wirtschaftliche Dynamik im zweiten Quartal höher ist als bislang erwartet. Zudem haben zuletzt die zyklisch bedeutsamen Teilbereiche an Dynamik gewonnen, sodass wir nun keine Schrumpfung mehr für das dritte Quartal erwarten. Wir gehen daher davon aus, dass die von uns erwartete milde Rezession erst im Winterhalbjahr 2023/24 stattfinden wird.
Prognoserevision: Aufwärtsrevision der BIP-Prognose für 2023 sowie Abwärtsrevision für 2024.
Märkte Industrieländer
Europäische Zentralbank / Geldmarkt
Bei ihrer Ratssitzung am 15. Juni und bei ihrer jährlichen Konferenz in Sintra signalisierte die EZB, dass die Straffung der Geldpolitik noch nicht abgeschlossen sei und Leitzinssenkungen für längere Zeit nicht in Betracht kämen. Wir erwarten einen erneuten Zinsschritt um 25 Basispunkte Ende Juli. Bis zur Ratssitzung im September sollten jedoch ausreichend Hinweise auf einen nachlassenden Inflationsdruck und eine restriktive Wirkung der Geldpolitik vorliegen, um die Leitzinsen nicht weiter anheben zu müssen. Mit dem Beginn von Leitzinssenkungen rechnen wir erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres. Die Rückzahlung von TLTRO-III-Langfristtendern im Umfang von über 500 Mrd. Euro Ende Juni hatte keine signifikanten Auswirkungen auf die €STR- und EURIBOR-Sätze und ging auch nur mit einer überschaubaren Inanspruchnahme der turnusmäßigen Refinanzierungsgeschäfte der EZB einher. Dies bestärkt uns in der Einschätzung, dass die Reduktion der Überschussreserven weit fortgeschritten sein muss, um spürbaren Aufwärtsdruck auf die Geldmarksätze hervorzurufen.
Rentenmarkt Euroland
Nach Kommentaren der EZB haben Marktteilnehmer nicht nur ihre Erwartungen über noch bevorstehende Leitzinserhöhungen weiter nach oben korrigiert, sondern rechnen zudem auch mit erst späteren Senkungen. Dies hat zu einem weiteren Anstieg der Renditen in den kurzen und mittleren Laufzeitbereichen geführt, die ihren Zenit damit aber weitgehend erreicht haben dürften. Auf das lange Ende der Bundkurve hat sich die Aussicht auf höhere Leitzinsen dagegen kaum niedergeschlagen. Hier wirken konjunkturelle Abwärtsrisiken nach wie vor dämpfend, und die Belastungen durch zukünftige Neuemissionen erweisen sich als weniger groß als zunächst angenommen. Wir sehen für die Renditen in den längeren Laufzeitbereichen vorerst nur wenig Spielraum nach unten, auch wenn diejenigen am kurzen Ende mittelfristig zurückgehen sollten.
Prognoserevision: Aufwärtsrevision der BIP-Prognose für 2023 sowie Abwärtsrevision für 2024.
Devisenmarkt: EUR-USD
Nach dem Rückgang vom Mai ist der Wechselkurs im Juni wieder angestiegen und bewegte sich zuletzt um 1,09 EUR je USD. Die Renditedifferenzen an den Staatsanleihemärkten zwischen den USA und Deutschland blieben weitestgehend unverändert, obwohl die US-Notenbank Fed im Juni im Gegensatz zur EZB eine Leitzinserhöhungspause eingelegt hat. Denn der hawkishe Ausblick der US-Notenbanker zeigte, dass das Leitzinshoch der Fed noch nicht erreicht ist, was die Renditen der US-Staatsanleihen in den Wochen danach weiter ansteigen ließ. Für die Fed erwarten wir eine weitere Leitzinserhöhung im Juli und danach einen weiterhin datenabhängigen Kurs. Der US-Dollar profitiert vom noch nicht abgeschlossenen Drehen an der Zinsschraube der Fed. Kurzfristig dürfte sich der Wechselkurs somit eher unterhalb der Marke von 1,10 USD je EUR bewegen.
Aktienmarkt Deutschland
Der deutsche Aktienmarkt blickt auf ein sehr gutes erstes Halbjahr zurück. Die Konjunktur ist weniger stark eingebrochen, als dies im Vorfeld erwartet worden war, und die Unternehmensgewinne haben sich äußerst widerstandsfähig gezeigt. Dieses Bild sollte auch von den ab Ende Juli zur Veröffentlichung anstehenden Unternehmensergebnissen des zweiten Quartals bestätigt werden, sodass die Unternehmensgewinnerwartungen für das Gesamtjahr leicht nach oben angepasst werden dürften. Der Verlauf der Kurse steht somit in einem gesunden Verhältnis zur Gewinnentwicklung, und die Bewertungen liegen unterhalb ihrer langjährigen Durchschnittswerte. Nach der starken Aufwärtsbewegung kann eine technische Korrektur nicht ausgeschlossen werden. Diese dürfte aber zeitlich begrenzt und nicht besonders ausgeprägt ausfallen. Die Ausgangslage für mittel und langfristig weiter steigende Kurse ist unverändert intakt.
Unternehmensanleihemarkt Euroland
Die Risikoaufschläge für Unternehmensanleihen haben sich in den letzten Wochen weiter verringert, und das, obwohl die Zinsanhebungserwartungen an die EZB gestiegen sind und die Konjunkturaussichten sich auch als Folge davon zunehmend weiter eintrüben. Es ist vor allem das allgemein gestiegene Zinsniveau, das im Zusammenspiel mit den – wenn auch nur noch geringen – Risikoaufschlägen die Unternehmensanleihen so attraktiv für Investoren macht. Zwar ist in den kommenden Quartalen mit enttäuschenden Wirtschaftsdaten zu rechnen, doch offensichtlich schauen die Anleger durch diese hindurch und hoffen auf eine nachfolgende Besserung. Selbst wenn schwache Quartalsberichte vorübergehende Spread-Ausweitungen auslösen, ergibt sich über die Gesamtlaufzeit betrachtet somit ein attraktives Investment.
Emerging Markets
Märkte
Schwellenländeranlagen konnten in den vergangenen Wochen Zugewinne erzielen. EM-Aktien blieben dabei hinter der guten Entwicklung der Industrieländer-Indizes zurück, was vor allem auf die anhaltende Schwäche chinesischer Aktien zurückzuführen war. EM-Renten entwickelten sich dagegen trotz des negativen Trends bei Industrieländer-Staatsanleihen gut. Hartwährungsanleihen verzeichneten deutliche Spreadeinengungen, während Lokalwährungsanleihen sowohl von Renditerückgängen als auch von Wechselkursgewinnen wichtiger Länder profitierten. Hohe Renditen sowie die Zuversicht, dass der Zinsanhebungszyklus in Schwellenländern abgeschlossen ist, machen vor allem Lokalwährungsanleihen attraktiv. Die Spreads von Hartwährungsanleihen könnten im weiteren Jahresverlauf unter der globalen Wachstumsschwäche leiden, die Anleihen dürften aber von rückläufigen US-Staatsanleiherenditen gestützt werden. EM-Aktien könnten von verstärkten Konjunkturstützungsmaßnahmen der chinesischen Regierung profitieren, doch halten wir Hoffnungen auf ein großes Stützungspaket für zu hoch angesetzt.
Szenarien
Basisszenario (Wahrscheinlichkeit: 65 %)
Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung halten perspektivisch den Inflationsdruck hoch und dämpfen das globale Wachstum.
Regimewechsel am Kapitalmarkt durch dauerhaft höhere Zinsen.
Notenbanken erhöhen Leitzinsen bzw. halten sie auf hohem Niveau, bis Rückgang der Inflationsraten hinreichend weit vorangeschritten ist. Erste Leitzinssenkungen sind frühestens 2024 zu erwarten.
Weltwirtschaft durchläuft eine Schwächephase und wächst ab 2024 wieder kräftiger.
Wegen weiterhin zu hoher Inflation und wegen deutlich gestiegener Zinsen werden Geld- und Finanzpolitik bis auf Weiteres die Entwicklung von Wirtschaft und Kapitalmärkten nicht mehr so stützen können wie bisher.
Für Europa und die USA sind bis ins Jahr 2024 hinein schwaches Wachstum und zu hohe Inflationsraten zu erwarten.
In China begrenzen anhaltende Probleme wie die verstärkte staatliche Regulierung und die Korrektur im Immobiliensektor das Wachstum.
Aktienmärkte bewegen sich zunächst seitwärts mit hohen Schwankungen. Mittelfristig profitieren sie von globalem Wachstum und dem Umbau der Wirtschaft mit Blick auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit.
Zinsen dürften tendenziell niedriger als Inflationsraten bleiben. Kaufkrafterhalt der Geldanlagen funktioniert am besten über breit gestreute Wertpapieranlagen, allerdings unter Inkaufnahme von Wertschwankungen.
Negativszenario (Wahrscheinlichkeit: 25 %)
Zweitrundeneffekte bei der Inflation setzen Lohn-Preis-Spirale in Gang und führen zu anhaltend deutlich höheren Inflationsraten. Notenbanken sehen sich dadurch zu einer extrem restriktiven Geldpolitik gezwungen, die eine massive Rezession auslöst.
Belastungen durch spürbar gestiegene Zinsen lösen eine globale Bankenkrise aus.
Dramatische Eskalation des Russland-Ukraine-Kriegs mit Ausweitung auf weitere Länder. Infrastruktur-Sabotage als Mittel der unkonventionellen Kriegsführung. Anhaltende Ost-West-Konfrontation verringert positive Wachstumswirkungen der Globalisierung.
Stark gestiegene Staatsverschuldung löst in Verbindung mit den spürbar gestiegenen Zinsen regionale bzw. globale Schuldenkrisen aus mit dem Risiko einer umfassenden Finanzkrise bzw. in Euroland einem erneuten Infragestellen der Währungsunion.
Positivszenario (Wahrscheinlichkeit: 10 %)
Inflationsraten gehen innerhalb kürzester Zeit zurück und bleiben dann im Bereich der Notenbankziele. Notenbanken können Zinsen schnell auf neutrale Niveaus zurücknehmen.
Einfrieren des Russland-Ukraine-Konflikts führt zu zügiger Beruhigung von Wirtschaft und Finanzmärkten.
Kräftige Gewinnanstiege der Unternehmen führen zu deutlichen Aktienkursanstiegen und wirken als Triebfeder für die Investitionsdynamik.
Überraschend starke Wachstumsdynamik in den Emerging Markets mit Schubwirkung für globale Wirtschaft.