Kolumne Dr. Bernhard Jünemann | Der perfekte Börsensturm
Am 27. Januar bebte die Welt der Technologiewerte. Die Aktie von Nvidia, der hochgelobte Profiteur der Entwicklungen von KI – künstlicher Intelligenz, stürzte brutal ab. Rund 600 Milliarden US-Dollar oder 17 Prozent des Aktienkurses gingen verloren, der höchste Verlust einer einzelnen Aktie an einem Tag in der amerikanischen Börsengeschichte. Wahrlich ein perfekter Börsensturm, aber „perfekt“ heißt in diesem Fall auch, dass man viel daraus lernen kann.
Auslöser des Bebens war eine Nachricht aus China. Eine bisher unbekannte Firma namens Deepseek präsentierte ein KI-Modell, das alles das kann, was auch die Platzhirsche in den USA, Google oder Open AI können, nur deutlich preiswerter als diese.
Sogleich wurde heftig diskutiert, wie dies möglich war. Wurde die Entwicklung von Deepseek mit massiven Subventionen des chinesischen Staates finanziert, wie er es schon mit der Entwicklung der Elektroautos machte? Hat Deepseek US-Patente unrechtmäßig kopiert?
Soweit wir bisher wissen, hat der geniale chinesische Entwickler Liang Wenfeng, Gründer des chinesischen KI-Start-ups Deepseek, dies ohne Regierungsgelder geschafft, finanziert durch einen Venture-Capital-Fonds. Und auch Patente auf Hochleistungschips hat er nicht gestohlen, sondern zur Entwicklung ältere, weniger leistungsfähige Chips genutzt.
Für die Weltwirtschaft und die Anlegerinnen und Anleger lautet deshalb die wichtigste Botschaft: Das ist Wettbewerb, wie er in einer Marktwirtschaft, funktionieren sollte. Wenn er frei ist, suchen die Firmen ständig nach besseren Lösungen. In offenen Märkten ist Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren, wie es der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek 1968 postulierte.
Die Offenheit gilt es zu schützen. Auf nationaler Ebene geschieht dies durch Wettbewerbsgesetze, die Kartelle verbieten. International ist das weniger möglich, weil hier auch immer Regierungen mitmischen und häufig für Verzerrungen und Behinderungen sorgen. Trotzdem wirkt auch global die Kraft des Wettbewerbs.
Für die Branche der Künstlichen Intelligenz ist die Offenheit besonders wichtig, weil es darum geht, auch neue, andere Wege zu beschreiten. Hier erweist Liang Wenfeng der Branche einen großen Dienst. Der Quellcode seines Modells ist frei zugänglich, Open Source, wie es in der Sprache der Computerexperten heißt. So hilft er der Branche zu mehr Wettbewerb, wovon auch europäische Startups profitieren und Deepseek Konkurrenz machen können. Deepseek leidet zudem unter dem Verdacht, dass sich letztlich doch die chinesische Regierung Zugang verschafft.
Für Anlegerinnen und Anleger heißt dies: Sie müssen sich nicht auf wenige Unternehmen konzentrieren, sondern das Angebot reizvoller KI-Startups könnte wachsen. Denn die Konzentration auf wenige Anbieter mit vermeintlichen Alleinstellungsmerkmalen kann an der Börse fatale Auswirkungen haben. Es gibt dann oft einen Run auf einzelne Aktien, deren Kurse ins Unermessliche steigen und extreme Überbewertungen zur Folge haben. Dann kommt die alte Börsenweisheit ins Spiel, wie sie der Spekulant André Kostolany formuliert hat: „Wenn die Kurse nicht weiter steigen können, müssen sie fallen.“
Und das ist die nächste wichtige Lehre für Anlegerinnen und Anleger: Wer auf einzelne Aktien setzt, muss genau die wirtschaftlichen Aussichten der Firma analysieren, aber auch die möglichen Reaktionen anderer Anlegenden, die im Extremfall die Kurse nach oben oder unten treiben können, ohne dass es dafür fundamentale Gründe gibt. Zudem muss man gerade in offenen Wettbewerbssystemen immer wieder mit Überraschungen rechnen, die auch die besten Analysen nicht vorhersehen können.
ETF-Anlegende mögen abwinken und darauf verweisen, dass sie nicht mehr auf Einzelaktien setzen, sondern nur noch auf Indizes und mithin auf breite Diversifikation der Anlagen. Dafür spricht einiges. Im Fall der Nvidia-Aktie, die an einem Tag 17 Prozent fiel, waren die Verluste an der Nasdaq mit gerade mal drei Prozent kaum der Rede wert.
Extrem hohe Bewertungen sind dann ein Warnzeichen, dass es heftige Reaktionen abwärts geben kann.
Aber so einfach ist die Sache nicht. Auch Indizes können sehr konzentriert sein, aktuell Indizes auf Technologie oder sogar spezielle Themen. Extrem hohe Bewertungen sind dann ein Warnzeichen, dass es heftige Reaktionen abwärts geben kann. Anlegerinnen und Anleger sollten in der aktuellen Situation ihre Depots analysieren, wie hoch der Technologieanteil auch bei ETFs ist, und überlegen, ob es nicht an der Zeit ist, diesen zu verringern und sich wieder breiter aufzustellen.